ANDREW HIGGINS
Der Schneider
Fingerspitzengefühl
Band 1 einer Trilogie
London, heute, in einer Seitenstrasse. Ein Schneidergeschäft seit unzähligen Jahren. Andrew Higgins, der Besitzer des Schneidergeschäft kleidet seine Kunden, manchmal auch Kundinnen, nach einem sehr bestimmten Prinzip ein. Ob ein Geschäftsmann mit einem Problem mit seiner Frau, oder ein Killer der die ermordeteLiebe seines Lebens rächen will, ein weltberühmter Regisseur der mit seiner Hauptdarstellerin eine verzwickte Vereinbarung getroffen hat, allen schneidert Higgins eine mögliche Lösung direkt nach Mass. Andrew Higgins besitzt magische Stoffe.
Preis CHF 24.– / 248 Seiten SoftCover-Taschenbuch.
Lektorat: Dr. Stephan Ziegler
Layout und Design: Mario Romano
Verlag: Edition NEWMAN&PAUL
Leseprobe – SIR PHILIP BRANDON BROWN
Higgins zog sein Jackett an, verliess das Geschäft durch die Hintertüre und schritt entschlossen in eine Seitenstrasse, um Brot, Käse, Eier und Speck zu kaufen. Alles, was ein Mann, der über viele Jahre auf der Strasse gelebt haben musste, wie ein Festmahl empfinden würde, selbst wenn er früher an Banketten mit der Queen gespeist hatte.
Während Higgins fast schlafwandlerisch für die Zusammenstellung eines bescheidenen Mahls durch die Geschäfte streifte, erinnerte er sich an die Zeit, als Sir Philips Tragödie fast täglich auch Gesprächsstoff unter seinen Kunden war. Der Schneider erinnerte sich auch, wie schwer er sich den verächtlichen Aussagen einiger seine reichen Kunden entziehen konnte. Oftmals würgten sich Widerworte durch seine Speiseröhre, dass sie bis in den Mund hochkamen und er aufpassen musste, dass sie nicht aus seinem Rachen schossen wie bei einem Drachen, der plötzlichen Feuer spie. Jede Medaille hat ja bekanntlich zwei Seiten.
Sir Philip Brandon Brown war in einen Finanzskandal verwickelt, der dazu führte, dass viele einfache Bürger ihr gesamtes Erspartes von einem Tag auf den anderen verloren. Brown verteidigte sich selbst für die Nichtschuld eines wesentlichen Teils dieses Skandals über Monate in einem aufwendigen Prozess, aber der Druck aus der Gesellschaft und der Opportunismus einiger Politiker führten dazu, dass Brown als alleiniger Schuldiger herhalten musste. Schlussendlich brach er unter dem Druck der Anklage zusammen – auch deswegen, weil gleichzeitig bekannt wurde, dass Browns Frau schon seit geraumer Zeit ein Verhältnis mit einem seiner besten Freunde hatte, der ihm eigentlich hätte beistehen sollen, sich dann aber gegen Brown gewandt hatte.
Ab einem Zeitpunkt war niemand mehr an der Wahrheit interessiert. Das Geld war verschwunden, im wirtschaftlichen Schlachtfeld gab es einen Verlierer, eine Familie wurde auseinandergerissen und Brown aus seiner beruflichen Kaste der Investmentbanker auf höfliche britische Art entlassen, was schlussendlich dazu führte, dass er nirgends mehr eine offene Tür fand. Sir Philip war das Bauernopfer in einem grossen Spiel. Solche Schlachten werden in der Finanzwelt zwar täglich geführt. Browns Geschichte bekam aber deshalb so grosse internationale Aufmerksamkeit, weil er über viele Ecken mit der königlichen Familie verbunden war. Weit zwar, aber doch nah genug, dass er beim geringsten Anzeichen eines Skandals ohne mit der Wimper zu zucken fallengelassen wurde.
Higgins fand zu seinem Geschäft zurück und legte die Speisen auf seinem Arbeitstisch aus. Er begab sich kurz in seinen dunklen Raum, von dem niemand wusste, wie gross, tief und hoch dieser sein mochte, kam mit ein paar Kleidungsstücken und Schuhen zurück, stieg zu seiner Wohnung hoch und legte die Garderobe auf den Stuhl neben dem Badezimmer. Zurück in seinem Arbeitsraum kochte er heisses Wasser, weil Wein oder Cognac wohl das Letzte waren, was Brown im Moment für seinen ausgezehrten Körper brauchen konnte.
Als alles vorbereitet war, setzte sich der Schneider in seinen Sessel und wartete. In Gedanken durchstreifte er noch alle abrufbaren Bilder aus den unterschiedlichsten Medien von damals. Ambra sagte eines Tages zu ihm: „Ich hoffe, er findet eines Tages wieder den Weg zu sich – und vielleicht auch den Weg zu Dir.“
In Gedanken tauchte Ambras Gesicht auf, wie sie ihren Mann dabei anlächelte. Ein Lachen, das Zauber und Weisheit verband, wie es selten bei einer Frau zu finden war. Higgins dachte dabei: „Meine Liebe, wie recht du doch oft hattest und immer noch hast.“
Plötzlich vernahm der Schneider Schritte von der Decke, die den Gang entlang bis zur Treppe führte. Einige Augenblicke später erschien Brown durch die Türe.
Higgins erfuhr ein drittes Mal einen Stich ins Herz, aber dieses Mal war es eher das schwache Glühen einer tiefen Berührtheit.
Vor ihm stand ein Mann, der durch die Kleidung von Higgins wieder elegant und gepflegt erschien. Die neue Garderobe gab ihm eine akkurate Haltung, obwohl Brown sichtlich abgemagert war. Sein Gestus in der Kleidung war derer noch nicht würdig, aber was war von einem Menschen zu erwarten, dessen täglicher Begleiter nur die Schuld war? Das kam jetzt durch die Rasur deutlich zum Ausdruck. Fast konnte man meinen, der Tod hätte den Versuch unternommen, Platz in seinem Gesicht zu nehmen. Doch in Browns Augen war noch genug Leben zu erkennen. Der Bart war vollkommen verschwunden und gab ihn auf eine Art wieder frei. Brown hatte sich auch sein Haar mit dem Rasierer kräftig gestutzt. In ihm steckt also immer noch genügend Entschlossenheit.
Als Brown eintrat und das Essen auf dem Tisch sah, begann er zu zittern. Er wollte etwas zu Higgins sagen, aber das Zittern hielt ihn davon ab. Der Gast sammelte sich, sah Higgins nervös an und sagte: „Entschuldigen Sie, Mister Higgins, ich kann damit nur schwer umgehen. Aber ich danke Ihnen mit allem, was ich bin … Es war ein so wunderbares Gefühl, zu duschen! Ich hatte nicht mehr bemerkt, wie schwer mit der Zeit so viel Haar und so viel Bart an einem hängt.“
„Möchten Sie Tee?“
„Sehr gerne.“
„Und bitte, greifen Sie zu. Ich glaube, die Zeit der Busse könnte langsam ein Ende finden.“
Brown sah Higgins verblüfft an.
„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Brown aufgewühlt und sah die einfachen Gerichte an wie ein Kind an Weihnachten die Bescherung.
„Als Schneider, besonders einer meiner Art, dessen Kunden zu einem wesentlichen Teil zu der Elite gehören, deren Teppiche Sie beschritten haben, Mister Brown, komme ich nicht drumherum, Dinge zu hören, die weder ein Journalist noch ein Anwalt zu Ohren bekommt.“
Brown griff zu einem Ei, begann, es zittrig zu schälen, und sagte dabei: „Ja ich weiss, Männer sind Plaudertaschen, entweder beim Friseur, bei der Prostituierten oder beim Schneider.“
Higgins sah Brown in aller Ruhe an, und mit einem feinen Lächeln bestätigte er dessen ungeschminkte Aussage.
Der Gast biss langsam in das Ei und Higgins konnte zusehen, wie ein Mensch ein einfaches Ei so genoss, als wäre es der Inbegriff des Seins.
Higgins wartete, bis Brown das Ei ruhig und bewusst gegessen hatte. Das war klug – fast jeder Hungrige würde den Fehler begehen, dem Schmerz des Hungers durch das Verschlingen der Speisen Einhalt zu gebieten wollen. Doch Brown liess sich Zeit, was vermutlich zu noch mehr Schmerz in seinem Körper führte. Aber die langsam zu sich genommene Mahlzeit verteilte sich so sanfter in seinem Körper, sodass Brown später bestimmt schneller zu Kräften kommen würde.
Der Gast griff zu Brot und Käse, und Higgins stellte ihm einen nicht mehr allzu heissen Tee dazu.
Plötzlich fragte Brown in einem Ton, aus dem herauszuhören war, dass in diesem Mann trotz allem noch etwas Kampfgeist wohnte: „Darf ich Sie fragen, was Sie gehört haben, was andere nicht hören wollten oder falsch verstanden hatten?“
Higgins nahm sich auch eine Tasse Tee und setzte sich auf den Rand seines Arbeitstisches.
„Haben Sie etwas vor, Sir Philip?“, sagte er, ohne auf Browns Frage einzugehen.
„Bitte, nur Mister Brown, lassen wir das Sir weg. Daran hängt mir zu viel Britannien, aber dann doch wieder zu wenig, als es mir damals etwas genützt hätte.“
„Das kann ich verstehen.“
„Was ich vor habe? Hm, eine gute und doch fast bedrohliche Frage. Ich weiss nicht, wo ich anfangen soll.“
„Darf ich Sie fragen, warum Sie damals nicht aus jenem destruktiven Zustand herausgetreten sind und sich ein neues Leben aufgebaut haben?“
„Wieso? Dieses berühmte Wieso!“
Leseprobe – AVA GARDNER
An manchen Tagen spazierte Andrew Higgins über Mittag in Gedanken versunken der Themse entlang, über den Weg, den seine Frau Ambra und er so oft in ihren Ehejahren genommen hatten. Auf diesem Weg hatten sie gelacht, geschwiegen, getrauert, diskutiert und die Zeit vergessen, wenn sie sich in die Arme nahmen, weil sie wieder eine Krise überstanden hatten oder einfach nur glücklich waren.
Higgins blieb stehen, lehnte sich an das steinerne Geländer und fühlte, wie sich das heisse Eisen des Verlustes wie eine Schlange um sein Brustbein schloss, bis in seine Kehle, worauf der Druck sich teilte und sich über beide Augen in Tränen befreien wollte.
«Du fehlst mir … Du fehlst mir so sehr. Ich weiss manchmal nicht, wie ich die Tage ohne dich überstehen soll.»
Higgins sah den letzten Tag vor seinen Augen, den sie zusammen verbracht hatten, bevor Ambra abends nur kurz ein Brot kaufen wollte – und davon nie mehr zurückkam. Dabei war das eigentlich sein Ritual, um vor dem Essen noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Doch an diesem Tag stand der Schneider kurz vor der Vollendung einer Robe für einen Parlamentarier, sodass Ambra entschied, selbst einzukaufen. Und dann geschah das Undenkbare … Sie wussten ja beide, dass sie durch ihr spezielles Wissen und ihre besonderen Freunde stets in Gefahr waren. Aber sie dachten nie, dass ihre Feinde so weit gehen würden. Das Fahrzeug begann Fahrerflucht. Niemand hatte gesehen, was für eines es war oder wer am Steuer sass. Es war, als existierte dieser Wagen überhaupt nicht. London ist mit einem flächendenkenden Überwachungssystem ausgestattet. Aber genau an diesem Abend fielen an dieser Strassenecke die Kameras aus.
Die beiden lebten wohl schon länger in steter, wenn auch unterschwelliger Furcht, die sie wie eine leise Klingel an der Haustüre störte – Angst wegen ihres Wissens um viele Geheimnisse, die sie rund um ihre Tätigkeiten mitbekommen hatten. Aber im Zusammensein konnten sie sich gegenseitig die Furcht nehmen. Zusammen bestritten sie auch so manche Attacke ihrer Feinde. Die feine Klingel hielt sie wacher und achtsamer als jedes andere Paar. Seit jenem Nachmittag vor 21 Jahren, bei dem Schneider Vito Santoro in Verona, wussten beide, dass ihr Leben nie mehr so sein würde, wie es zuvor war.
Higgins riss sich aus seinen Träumen und ging zurück zu seinem Geschäft. Über die Themse zog ein steifer Wind, der den Herbst ankündigte. Wieder ein Winter ohne Ambra, dachte der Schneider. Manchmal wünschte er, er könnte sich dieses heisse Eisen aus der Brust reissen, manchmal hoffte er, es möge ihn verbrennen.
Higgins betrat seinen Laden durch die Hintertür, weil er vor dem Öffnen noch einige Momente für sich haben wollte. Als er das Entrée betrat, sah er, dass aus diesem Wunsch nichts wurde. Da lehnte jemand mit dem Rücken zur Türe an seinem Geschäft. Im ersten Moment war es nur ein schwarzer Zustand, der sich an das Glas drückte. Erst auf den zweiten Blick erkannte Higgins, dass da ein wohlgeformter Frauenkörper ganz in Schwarz gewandet an seiner Tür lehnte. Higgins klopfte auf Kopfhöhe sachte an die Scheibe.
Da wirbelte ein Kopf herum, umweht von einer schwarzen Pracht an vollem, glänzendem Haar, und Higgins blickte in ein wunderschönes Frauengesicht von bestechender Reife, wie er es seit Jahren, seit dem Tod seiner Frau, nicht mehr gesehen hatte. Der Schneider starrte einen Moment lang in das Gesicht, bis dieses sanft die Augenbrauen hob, Higgins ein Lächeln schenkte und ihm ein Zeichen gab, ob er wohl die Türe öffnen würde. Er erkannte die Frau, obwohl sie sich noch nie persönlich begegnet waren.
Higgins riss sich aus seiner Verwunderung, öffnete elegant die Türe und sagte freundlich: «Seien Sie gegrüsst, Lady Gardner.»
«Vielen Dank, Mister Higgins.» Sie schritt leicht schwebend an ihm vorbei.
Ava Gardner war auf eigenwillige Art gekleidet – eine Mischung aus Leder, Seide und fester, dichtgewobener Leine, die an manchen Stellen von Eisenteilen zusammengehalten wurde. Alles in Schwarz. Dagegen hielten ihre leuchtend roten Lippen, ihr blasser Hautton und ihre eisblaue Augen. Die Besucherin bewegte sich langsam in seinen Empfangsraum. Sie war eine Frau mit grosser Wirkung, die sie auch einzusetzen wusste.
Higgins war von Gardners Erscheinung fasziniert und seine Augen konnten nicht verhindern, die auf der Figur liegende Erotik für ein paar Sekunden zu bewundern.
«Was führt Sie zu mir, Lady Gardner?», fragte der Schneider in einer freudvollen, fast verlegenen Note und schloss dabei die Eingangstür.
«Ich benötige Ihre besonderen Dienste», antwortete Gardner und schmunzelte in sich hinein, weil aus Higgins’ Stimme feine Splitter von Komplimenten herauszuhören waren.
«Meine besonderen Dienste? Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen, Lady Gardner.»
«Besteht bei Ihnen die Möglichkeit einer intimeren Umgebung?», fragte Ava Gardner, ohne mit der Wimper zu zucken.
Higgins wurde von einer neuen Welle an Faszination erfasst, nahm das Schild Geschlossen, hing es an die Türe und bat die Besucherin mit einer sanften Bewegung nach hinten in seinen Arbeitsraum.
Als Gardner seinen Arbeitsraum betrat, lehnte sich Higgins an seinen grossen Tisch, verschränkte die Arme und fragte in einem etwas angriffigen, aber eleganten Ton: «Ist es Ihnen hier intim genug?»
«Mister Higgins, vielleicht war intim für den Beginn unserer Zusammenarbeit wohl eine Spur zu verfrüht. Aber ja, hier ist es wunderbar. Was für ein Raum!»
Dabei ging Gardner um den grossen Tisch und fuhr mit der Hand darüber, aber auch sonst musste sie vieles berühren, was sie in diesem Raum faszinierte.
«Verzeihen Sie, lieber Higgins, mein kindliches Bedürfnis, alles, was mir gefällt, zu berühren. Aber was mir gefällt, muss ich spüren.» In ihrem letzten Satz klang eine Nuance mit, bei der Higgins ahnte, dass das vermutlich kein einfacher Nachmittag werden würde.
Der Schneider lehnte sich an seinen Platz an die Wand und wartete, bis sich die Dame ausgetobt hatte. Es war amüsant zu sehen, wie sich eine gestandene Frau durch den Glanz gewisser Gegenstände aus der Fassung bringen lassen konnte. Als ob sie Higgins’ Gedanken erraten könnte, stoppte Gardner ihre Euphorie und blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen. Sie wurde von einer Sekunde auf die andere ernst. Die Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht verlieh ihren ebenmässigen Züge Strenge, und aus ihrer Schönheit drang ein Versprechen, das viele Männer anziehend gefunden hätten.
«Ich brauche Ihre besonderen Dienste. Oder sind die nur Männern vorbehalten?»
«Was wünschen Sie, Lady Gardner?» Higgins wurde im selben Moment selbst zu einer ernsten Person. «Oder anders gefragt: Worum geht es bei Ihrer Angelegenheit?»
Der Schneider wartete in aller Ruhe an seiner Wand. Gardner zog sich langsam – ohne Higgins eines Blickes zu würdigen – die Handschuhe aus, dann ihre kurze schwarze Lederjacke. Unter der Jacke erschien ein Korsett, ebenfalls aus Leder, ebenfalls von hervorragender Qualität. Die Frau begann, das mit kunstvollen Haken und silbernen Ösen verschlossene Korsett unterhalb ihres wohlgeformten Busens langsam zu öffnen. Nach ihrer dieser provokativen Prozedur sah sie Higgins streng in die Augen, sodass es dem Schneider einen Moment seltsam wurde.
«Sehen Sie diese Narbe hier?» Gardner zeigte auf eine sternförmige Narbe oberhalb ihres Bauchnabels.
«Ja, ich kann sie sehen», antwortete Higgins leicht irritiert.
Gardner lehnte an die Wand, hielt ihr Korsett zu, um sich irgendwo festzuhalten, und begann zu erzählen.